Juli 2013

DER WUTBÜRGER

Tausende gehen auf die Straße. Zurecht?


Man mag es nicht glauben, aber in Deutschland gibt es eine Kultur des Protestes, die weit zurückreicht. Schon 1834 gab es die erste Massendemo auf deutschem Boden; das Hambacher Fest.
Seitdem ist viel passiert: Die gescheiterte Revolution von 1848, die geringfügig besser geglückte von 1918, der 17.Juni 1953, die "ohne-mich"-Bewegung in den 1950er-Jahren, die Anti-Atomkraft-Bewegung und zuletzt Stuttgart 21 und der öffentliche Protest dagegen.

Dirk Kurbjuweit, Essayist beim Nachrichtenmagazin "DER SPIEGEL" erfand 2010 für letztgenannte Veranstaltung den Begriff "Wutbürger". Und das mit Recht. Es ist das Recht, ja die gottverdammte Pflicht eines jeden Bürgers, zu sagen, was faul ist im Staate Dänemark, um mit Shakespeare zu sprechen. Ohne eine aktive Beteiligung der Bürger funktioniert Demokratie nicht.

Der pflichtbewusste Wutbürger ist aber in letzter Zeit in Verruf geraten. "FOCUS MONEY ONLINE" beschwerte sich in einem Artikel über Hochwasserschutzgegner im sächsischen Grimma. Diese hätten durch ihren Protest gegen eine geplante Wasserschutzmauer eine Wiederholung der Tragödie von 2002 erst möglich gemacht.

Gütig übergeht der Autor dabei, dass Grimma im gesamtsächsischen Trend liegt, Hochwasserschutzvorhaben durch äußerst lange Planfeststellungsverfahren zu verzögern. Aber das soll hier gar nicht das Thema sein. Vielmehr geht es ums Prinzip. In Deutschland wird an jeder Ecke gemeckert. Ganz aktuell zum Beispiel in den Anrainergemeinden der deutschen Betuwe-Linie zwischen Oberhausen und dem Grenzübergang nahe Emmerich. Wie so oft wundern sich Leute, die seit Jahrzehnten unmittelbar neben einer Bahnstrecke wohnen, über den Lärm, den Züge verursachen. Abhilfe könnte ja geschaffen werden und ausnahmsweise agiert die Bahn auch erstaunlich rasch: Lärmschutzwände sollen den Ort schützen. Und nun zeigt sich: Man sollte nicht so blauäugig sein und glauben, dass auch nur ein Streckenanrainer einen Meter Garten zur Verfügung stellen würde. Es läuft alles nach dem Motto dieses Jahrzehnts ab:

"JA, ABER NICHT IN MEINEM GARTEN!!!"

Aber wie denn dann. Deutschland ist nicht mit endlosen Steppen gesegnet, in die man laute Güterzugstrecken verlegen könnte (ganz abgesehen davon, dass die Güter ja auch einen Empfänger haben. Und der wohnt meist in der Stadt) und beliebig umlenken kann man Verkehrsströme auch nicht.

Diese Form von Wutbürgertum ist ein Problem, aber es ist nun wirklich nicht unlösbar. Wieso plant man heute bei Bauvorhaben eigentlich einen Zeitpuffer für Gerichtsverfahren mit ein, die von verärgerten Anwohnern angestrengt werden? Wieso sucht man nicht im Vorhinein einen Konsenz, mit dem alle leben können?

Man muss jeden einzelnen betroffenen Bürger von Anfang an umfassend über das informieren, was ihm bevorsteht. Man muss in jede einzelne Gemeinde fahren und ganz dezidiert darlegen:
Das hier müsst ihr leisten und dafür bekommt ihr dies hier zurück.

Niemand verzichtet gern auf seinen Garten oder die Aussicht auf den nahen Wald, aber im Zweifelsfall steht das Gemeinwohl über dem Wohl des Einzelnen. Das heißt im Umkehrschluss allerdings nicht, dass man einfach über die Köpfe der betroffenen Anwohner hinwegentscheiden kann. Ich bin überzeugt: Wenn man den Menschen zuhört und sie in die Entscheidungsfindung mit einbezieht, kann man Großprojekte mit wesentlich weniger öffentlichen Druck durchführen.

Wieso mussten in Stuttgart Wasserwerfer anrücken, bevor man sich mit Projektgegnern an einen Tisch setzte? Müssten wir uns nicht in Grund und Boden schämen, wenn wir, die selbsternannten Vorkämpfer der Demokratie heute Bilder aus Istanbul, Izmir oder Ankara sehen, die sich von Stuttgart teilweise nur in der Farbe der Wasserwerfer unterscheiden?

Wir müssen. Und wenn wir unseren eigenen Anspruch wahren und ihm genügen wollen, der Welt vorzuleben, wie Demokratie funktioniert; wie friedliches Zusammenleben funktioniert, dann müssen wir aus diesen Ereignissen lernen. Es müsste einen verpflichtenden Dialog mit den betroffenen Bürgern geben und keine Infocontainer und PowerPoint-Präsentationen, in denen fertige Planungen vorgeführt werden. Jeder Bürger hat das Recht auf Mitwirkung! Dann erst können auch Großprojekte zeitnah und mit einem geringeren finanziellen Aufwand realisiert werden, als es aktuell der Fall ist. Und dafür wird sich dieser kleine Einsatz doch wohl lohnen.

Im Zweifelsfall muss man aber auch als Unternehmen wie Die Bahn dazu bereit sein, auf eigene Gewinne zu verzichten, wenn dadurch eine volkswirtschaftlich sinnvollere Lösung gefunden wird. Die Zukunft des deutschen Bahnverkehrs liegt nicht an irgendwelchen Börsen, sie liegt auf den Schienen in Deutschland. Den bestehenden und den geplanten.

Und eines sollte man sich immer vor Augen halten: Eine Demokratie, in der alle einer Meinung sind, ist keine Demokratie. Wir leben von der Diskussion!
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